Mittwoch, 27. Januar 2021

Die gesellschaftliche Doppelmoral in der Frage nach dem Leben


Nina Stec

Im Zusammenhang mit der Coronakrise steht das Ziel des Schutzes von Leben ganz oben auf der gesellschaftlichen und politischen Prioritätenliste. Dem Recht auf Leben sollen notfalls andere Rechte untergeordnet werden. Für ungeborene Kinder gilt dies leider offenbar nicht.

Bereits als sich im März 2020 der erste Corona-Lockdown ankündigte, wurden vor allem in den Reihen von Linkspartei und Grünen Stimmen laut, die einen erschwerten Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen befürchteten und deshalb eine Aussetzung der Beratungspflicht und die Anerkennung von Abtreibungen als „notwendige medizinische Leistungen“ forderten. 

Diese Befürchtung ist offenbar nicht eingetreten: Eine auffällige coronabedingte Senkung der Abtreibungsrate lässt sich in Deutschland (leider) nicht verzeichnen. Das statistische Bundesamt teilt diesbezüglich mit: „Im 3. Quartal 2020 wurden in Deutschland rund 24 000 Schwangerschaftsabbrüche gemeldet. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, waren das 3,7 % weniger als im 3. Quartal 2019. Diese Veränderungsrate liegt im Bereich der üblichen Schwankungen, sodass dieses Ergebnis nicht durch einen Sondereffekt im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie beeinflusst sein muss.“ 

Andererseits führte die Coronakrise mit ihren Begleiterscheinungen wie Arbeitsplatzverlusten, Kurzarbeit, Schulschließungen und Notbetreuung auch mitunter zahlreiche Familien in eine schwere Lage, die auch zu Schwangerschaftskonflikten, bzw. der Frage: „Können wir uns ein Kind überhaupt leisten?“ führte. 

Währenddessen wird die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts zum Verbot der Abtreibung mit eugenischer Indikation vom Europaparlament scharf kritisiert. Dieses fordert eine Aufhebung des neuen Gesetzes zugunsten der „sexuellen Selbstbestimmung“. Gleichwohl gibt die EU-Gleichstellungskommissarin Dalli zu bedenken, dass ein direktes Eingreifen in die Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen in Mitgliedsländern nicht zu den Zuständigkeiten Brüssels gehöre. Stattdessen gelte es, die polnische Protestbewegung zu unterstützen, d. h. eine indirekte Einmischung in die Gesundheitspolitik anderer Nationen zu fördern. Mit dem Blick auf andere Länder sollte vielleicht eher bedacht werden, dass sogar im liberaleren Deutschland eine Abtreibung allein aus „eugenischem“ Anlass, also aufgrund einer Behinderung beim Kind, selbstverständlich nicht gestattet ist. Alles andere wäre schließlich eine extreme Diskriminierung und Abwertung behinderten Lebens. 

Doch obwohl es hierzulande offiziell keine Abtreibungen aus diesem Grund geben sollte, werden immer noch über die Hälfte aller Schwangerschaften bei Kindern mit Trisomie 21 abgebrochen. Dies wird dann aber nicht mit der Behinderung des Kindes, sondern über die Gesundheit und psychische Belastung der schwangeren Mutter „gerechtfertigt“ (sog. medizinische Indikation). 

Andererseits wird eifrig versucht, mit dem moralischen Dilemma der Tötung männlicher Küken zurechtzukommen. Das Verbot des umstrittenen „Kükenschredderns“ tritt bis Ende des Jahres in Kraft. Doch die Alternative, eine Geschlechterselektion im Ei und die Vernichtung männlicher Kükenembryonen zwischen dem 9. und 14. Bruttag (welche durch moderne Technologie bis 2024 auf den 6. Bruttag vorgezogen werden soll) behagt den meisten Tierschützern nicht, da die kleinen Hähne ja dennoch getötet werden. So richtig und legitim dieser Einwand ist: Warum stellen sich diese ethischen Bedenken, dieser wichtige Diskurs im Umgang mit ungeschlüpften Hühnern, nicht aber mit ungeborenen Menschenkindern? 

Der frühere Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe (CDU) sieht stattdessen eine weitgehende Radikalisierung und wachsende gesellschaftliche Akzeptanz der Abtreibungsbefürworter, die sich aus seiner Sicht gegen das fundamentale Grundrecht auf Leben stellen und demzufolge eigentlich Verfassungsfeinde seien, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden sollten. Parteien und Organisationen wie „Pro Familia“ grenzten sich nicht hinreichend von Randalierern ab, die etwa bei Filmvorführungen wie „Unplanned“ (2019) stören, Pro-Life Demonstranten belästigten, Kirchen verwüsteten oder Drohungen an Wände schmierten. Hingeschmierte Parolen wie „Föten töten!“ an einer Schwangerenberatungsstelle in München zeigten die Menschenverachtung dieser häufig als „Pro Choicer“ euphemisierten Extremisten. Statt sich mit dem heranwachsenden Leben auseinanderzusetzen, solidarisieren sich auch die großen Medien häufig lieber mit den „Aktivisten“ und verhelfen ihren Positionen zu einer moralischen Aufwertung, angeblich für die richtige Sache zu kämpfen. 

Die Frage nach der Abtreibung ist vor allem eine Frage von Mehrheit und Sichtbarkeit, die leider häufig zu Ungunsten des neuen Lebens entschieden wird. Laute, protestierende Mehrheiten auf der Straße werden wahrgenommen, traurige Frauen im Schwangerschaftskonflikt berühren die Gemüter. Das ungeborene Kind dagegen ist eben noch nicht geboren und – solange sich kein runder Babybauch abzeichnet – von außen unsichtbar. Und mit dem Kleinen, Unsichtbaren können und wollen sich viele nicht identifizieren. Die Verdrängung fällt einfacher, wenn ein (angebrütetes) Ei weggeworfen wird, als wenn das schon geschlüpfte Huhn im Schredder landet. Ein Embryo im 1. Schwangerschaftsdrittel sieht weniger vertraut „nach Mensch“ aus als ein Fötus im 6. Monat. Die Beziehung zum Kind wächst offenbar mit der Zeit und der Sichtbarkeit. Aber das ändert nichts daran, dass es sich um die gleiche Person, bloß in einem anderen Entwicklungsstadium handelt! Für diese Theorie spricht auch, dass Frauen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft von einer Behinderung ihres Nachwuchses erfahren, vergleichsweise seltener abtreiben als es in der Frühschwangerschaft der Fall wäre. Spätestens den Fetozid, also die Tötung des Kindes vor Einleitung der Geburt, ab der 23. Schwangerschaftswoche, lehnt die große Mehrheit der Schwangeren ab. Und wenn das Kind erst geboren ist, wollen es die meisten Eltern auch selbst großziehen, statt es zur Adoption freizugeben. 

Zum letzten Punkt: Die Rede vom „Recht“ auf Schwangerschaftsabbruch, von „Selbstbestimmung“ und „Empathie“ hat sich in Deutschland im Bewusstsein breiter Massen festgesetzt. Doch was ist mit der Empathie für schwangere Frauen, die ihr Kind austragen wollen und gegen ihren Willen mit der Abtreibungspropaganda konfrontiert werden? Im schlimmsten Fall sind es Frauen, die von ihrem Umfeld zur Abtreibung gedrängt werden oder in einer schweren Lebenslage keinen anderen Ausweg sehen. Etwas „harmloser“ aber auch schmerzhaft und verunsichernd kann es sein, im Bekanntenkreis, aber auch beim Arzt direkt gefragt zu werden, ob die Schwangerschaft „geplant“ zustande kam, oder wenn nachgehakt wird, ob eine Pränataldiagnostik vielleicht doch in Anspruch genommen werden soll und ob die Frau das Kind auch in diesem oder jenem Fall behalten möchte.