Mittwoch, 7. Oktober 2020

Nein zum Kükenschreddern, Ja zur Abtreibung – über grüne Ethik und den Zusammenhang eines moralischen Dilemmas


Nina Stec

Babys, ob menschlich oder tierisch, sind wehrloses, unschuldiges und schutzbedürftiges Leben. In diesem Punkt dürften wohl alle übereinstimmen. Die Tatsache, dass in Deutschland jährlich rund 45 Millionen männliche Eintagsküken allein aufgrund ihres Geschlechts getötet werden, führt folglich zu großer emotionaler Empörung. 

Insbesondere die brutal anmutende Praxis des Kükenschredderns lässt die Auseinandersetzung zu einer hochemotionalisierten Debatte werden, welche die Frage nach dem Verhältnis zwischen Tierschutz und wirtschaftlichen Interessen weit übersteigt. Befürworter des Schreddern behaupten zwar, dass diese Praxis den Tieren keine besonderen Schmerzen zufüge, sondern „kurz und schmerzlos“ sei, doch die abstoßenden und blutigen Bilder führen zur entschiedenen Ablehnung in großen Teilen der deutschen Bevölkerung und Politik. Deshalb müssen andere Lösungen her. Besonders engagiert in diesem Vorhaben ist die Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU), welche in einem Gesetzentwurf die umstrittene Praxis in Deutschland bis 2021 abschaffen möchte. 

Am schönsten wäre es sicherlich, wenn alle Küken leben und im besten Fall artgerecht aufwachsen dürften. Doch das könnte entsprechende Unternehmen aktuell in eine schwierige Situation bringen, wenn durch vermehrte Kosten die Produktpreise steigen müssten und Kunden nicht bereits wären, mehr zu bezahlen. Zudem würde es der Konkurrenz aus Nachbarländern, in denen das Kükentöten weniger bis gar nicht umstritten ist, zu Gute kommen. Als mehrheitsfähige, kostengünstige und „humanere“ Lösung für das Problem gilt die Vorverlegung der Geschlechterselektion in ein früheres Entwicklungsstadium des Kükens: Als männlich erkannte Küken sollen bereits vor dem Ausschlüpfen entsorgt werden. 

Die ehemalige Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und Grünenpolitikerin Renate Künast zeigte sich von dieser Lösungsmöglichkeit wenig überzeugt. Sie warf ein, wir „Dürfen nicht vergessen, dass ungeschlüpfte Küken Schmerzen fühlen können!“

Nach der Einsicht einiger Wissenschaftler können auch ungeschlüpfte Küken, etwa ab dem siebten Tag nach der Befruchtung, Schmerzen spüren. Der Geschlechtertest wird allerdings in der Regel nicht vor dem neunten Tag durchgeführt. Ob den Tieren auf diese Weise eher Schmerzen erspart werden, als beim nachgeburtlichen Töten, ist also ungewiss. 

Dieser Punkt ist besonders wichtig für die Überleitung zur Abtreibungsfrage: Im Vergleich zwischen Abtreibung und Kükenschreddern wird groteskerweise eingeworfen, dass es sich bei den geschlüpften Küken bereits um „geborenes“ Leben handele, das generell höher zu bewerten sei, als ein vorgeburtlicher „Zellhaufen“. 

Nach einer Logik, die zwischen geborenen und ungeborenen Leben unterscheidet (und nicht etwa nach menschlichem und tierischem), wird Abtreibung bisweilen als weniger schlimm empfunden als das Töten von Eintagsküken! So sieht es offenbar auch Künast, die zu den Unterstützerinnen Kristina Hänels im Kampf um die Streichung des § 219a StGB, gehört, welcher die Bewerbung von Schwangerschaftsabbrüchen untersagt. 

Die Vorverlagerung der Geschlechterselektion beim ungeschlüpften Küken schließt sich eben dieser Auffassung an, dass die Vernichtung ungeborenen Lebens weniger schlimm sei als Tötung nach der Geburt. Manifestiert wird diese Unterscheidung am Schmerzfaktor. Die Frage nach dem genauen Beginn des Schmerzempfindens ist aber sowohl bei ungeborenem menschlichem als auch tierischem Leben strittig. Fest steht allerdings, dass die Schmerzempfindlichkeit in beiden Fällen zu einem vorgeburtlichen Zeitpunkt einsetzt. 

Jedoch ist Schmerz kein ultimatives Kriterium, das endgültig über die moralische Richtigkeit der Vernichtung von Leben entscheiden könnte. Auch geborenes Leben kann z. B. aufgrund einer Erkrankung vollkommen schmerzunempfindlich sein, des Weiteren gibt es auch hier weitgehend schmerzfreie „Tötungsmöglichkeiten“ 

Es drückt sich der Eindruck auf, dass es weniger um eine Frage des reellen Schmerzempfindens geht, als um die Vermeidung schrecklicher Bilder. Einem befruchteten Ei sieht man das ihm innewohnende Leben nicht an. Somit kann beim Entsorgen die Zerstörung des Lebens äußerlich verborgen bleiben. Genauso verhält es sich mit dem ungeborenen Kind im Mutterleib, das äußerlich in den ersten Schwangerschaftsmonaten unsichtbar ist. Es geht um die Verdrängung, die Beschönigung und das „erträglicher machen“ des Grauens der willentlichen Beendigung von Leben. 

Deswegen gilt es, das verborgene sichtbar zu machen: Im Jahr 2019 wurden in Deutschland 100 893 Abtreibungen durchgeführt. Auch der coronabedingte Lockdown und die, gerade von Seiten einiger Grünenpolitiker häufig bedauerte „Weigerung“ von Gynäkologen, Abbrüche durchzuführen, ändern nichts daran, dass die Zahl der Abtreibung gestiegen ist. Nach Angabe des statistischen Bundesamtes wurden im zweiten Quartal dieses Jahres etwa 25100 Abtreibungen gemeldet. Das sind 2,8 Prozent mehr Fälle als im zweiten Quartal letzten Jahres. 

Wenn es bei männlichen Küken gilt, akzeptable Regelungen für einen besseren Tierschutz zu finden, die gleichzeitig mit den wirtschaftlichen Interessen der Unternehmer vereinbar sind, sollte eine ähnliche öffentliche Debatte verstärkt auch über ungeborene Kinder geführt werden. Auch hier sollte es einen großen medialen „Aufschrei“ geben und Engagement, stetig bessere Lösungen zur Beendigung der Abtreibung zu finden. Zuerst sollte aber die irrationale kategorische Unterscheidung zwischen geborenem und ungeborenem Leben aufgehoben werden.