Mittwoch, 13. Februar 2019

Willy Brandts ambivalente Haltung zur Abtreibung

Foto: Deutscher Bundestag / Presse-Service Steponaitis
Mathias von Gersdorff

Die Haltung von Bundeskanzler Willy Brandt zur Abtreibung war ambivalent. Gegen Ende der langjährigen Debatte äußerte er sich schließlich für eine Liberalisierung, aber aufgrund sozialer und praktischer Erwägungen. Als es schließlich zur Abstimmung zur Einführung der Fristenlösung kam, verließ Willy Brandt den Plenarsaal.

Er behauptete, ein Verbot würde Abtreibungen nur bei sozial schwachen Frauen verhindern, denn wohlhabendere hätten die finanziellen Mittel, illegale Abbrüche vornehmen zu lassen.

Doch Willy Brandt argumentierte nicht von Anfang an so. Interessant in dieser Hinsicht ist die Bundestagsdebatte vom 26. April 1974. In dieser verlas der CDU-Abgeordnete Friedrich Vogel (Ennepetal) einen Gesetzentwurf zum § 219 aus der vorherigen Legislaturperiode, in welchem der Schutz des ungeborenen Lebens vehement bejaht wurde. Der Entwurf trug die Unterschrift von Bundeskanzler Willy Brandt (Quelle: 7. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1974 Nr. 6477):

Die mit der Reform des § 218 StGB verbundene Problematik ist besonders ernst, weil mit jedem Schwangerschaftsabbruch ungeborenes menschliches Leben getötet wird. 

Menschliches Leben ist auch vor der Geburt ein schutzwürdiges Rechtsgut. Es steht unter dem Schutz der Verfassung. Es heißt weiter: Die Fristenlösung würde dazu führen, dass das allgemeine Bewusstsein von der Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens während der ersten drei Schwangerschaftsmonate schwindet. Sie würde der Ansicht Vorschub leisten, dass der Schwangerschaftsabbruch, jedenfalls im Frühstadium der Schwangerschaft, ebenso dem freien Verfügungsrecht der Schwangeren unterliegt wie die Verhütung der Schwangerschaft. Eine solche Auffassung ist mit der Wertordnung der Verfassung unvereinbar.

Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal: Das stammt aus der Begründung eines Entwurfs der Bundesregierung, der die Unterschrift des Bundeskanzlers Willy Brandt trägt. Aus der 6. Legislaturperiode, d. h. aus der Zeit vor der letzten Bundestagswahl, Herr Kollege Leicht.

Meine Damen und Herren, ich darf noch einige Sätze aus dieser Begründung zitieren; sie sind zu wertvoll, als dass sie in dieser Debatte untergehen dürften. Es heißt: Wenn die Gesellschaft das werdende Leben als schutzwürdiges Rechtsgut von vergleichsweise hohem Rang anerkennt, dann kann sie nicht, ohne in Widerspruch zu dieser Prämisse zu, geraten, die Vernichtung dieses Rechtsguts von dem freien Belieben des einzelnen abhängig machen.

Die Dreimonatsgrenze ist nicht tauglich, das allgemeine Bewusstsein von der Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens wenigstens für die Zeit nach dem vierten Schwangerschaftsmonat an zu erhalten. Und ein letzter Satz: Wenn die Rechtsordnung einem Rechtsgut strafrechtlichen Schutz gewähren will, sollte sie diesen Schutz nicht für eine bestimmte Zeitspanne suspendieren.

Als es schließlich zur Abstimmung zur Einführung der Fristenlösung kam, verließ Willy Brandt den Plenarsaal. 

Während der Debatte gab es viele Zwischenrufe. Die Abgeordneten der CDU zeigten sich über den drastischen Gesinnungswandel der SPD empört. Albert Leicht rief: „Vor zwei Jahren! Ich frage nur, wie lange man so etwas aufrechterhält!“ und Dr. Philipp Jenninger: „So wechseln die ihre Auffassungen! Wie ihre Hemden!)“.

Quelle: 7. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1974 6477

Foto: Deutscher Bundestag / Presse-Service Steponaitis